Ein Artikel von Jana Peters in der Freien Presse vom 28.5.2024
© Copyright Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG
Kaum zu glauben: Die Wiege des Bandoneons, des wichtigsten Instruments des argentinischen Tangos, steht in Chemnitz.
Jetzt lernen ganz Kleine, mit den 142 Tönen umzugehen. „Jürgen, kannst du mal einen Tango spielen?“, fragt Frida. Eigentlich übt die Gruppe, zu der das achtjährige Mädchen gehört, gerade, auf dem Bandoneon gemeinsam das „Seemannslied“ zu spielen. Ihr Lehrer, der Dresdner Bandoneonist Jürgen Karthe, hat gerade eine komplexere Melodie gespielt. Die Kinder sollen ihn begleiten, wie in einem Orchester. „Ihr müsst einfach den Rhythmus halten, egal was die anderen machen“, sagt er. Aber sich zu konzentrieren, fällt den Grundschülern heute gar nicht so leicht. Smilla fragt, ob der Lehrer neue Turnschuhe hat, Frida möchte einen Tango hören und alle steigen in eine Diskussion darüber ein, wer das schönste Instrument auf den Knien hat.
Aber Jürgen Karthe bleibt die Ruhe selbst, beobachtet und korrigiert das Spiel eines jeden Kindes. Trotzdem geht er auf ihre Fragen ein. Schließlich ist das Bandoneonspiel kein Unterrichtsfach. Fridas Wunsch nach einem Tango vertagt er auf das Ende der Stunde.
„Ich wusste vorher gar nicht, was ein Bandoneon ist“
Neun Kinder in der Grundschule Reichenhain zwischen sieben und neun Jahren, darunter nur ein Junge, lernen seit Oktober mit Jürgen Karthe Bandoneon spielen. Es ist ein Projekt, das in Deutschland einmalig sein dürfte. Weil in Chemnitz die Concertina, das Vorgängerinstrument des Bandoneons, erfunden wurde, hat die Sächsische Mozart-Gesellschaft ein Projekt für die Kulturhauptstadt Europas 2025 entwickelt. „Bewegende Klänge – Concertina & Bandoneon“ heißt es. Es soll die Stadt als Wiege des Bandoneons würdigen. Dazu zählt, das selten unterrichtete Instrument zu lehren. An der städtischen Musikschule unterrichtet Jürgen Karthe ebenfalls Bandoneon. Dort sind es 14 Schüler, Kinder und Erwachsene. Ziel ist, dass 2025 insgesamt 25 Personen, in Grundschule und Musikschule, Bandoneon lernen und gemeinsam in einem Orchester auftreten.
„Ich wusste vorher gar nicht, was ein Bandoneon ist“, sagt Frida. „Das Wort Bandoneon hört sich so schön an“, sagt die siebenjährige Selma. „Und die Töne klingen so schön“, fügt die neunjährige Aljona hinzu. Auch Tangos, die Jürgen Karthe schon vorgespielt hat, würden ihr sehr gut gefallen. „Die sind aber noch zu schwer für uns“, fügt Frida hinzu.
71 Knöpfe – 142 Töne
71 Knöpfe hat ein Bandoneon, verteilt auf beide Seiten. Es erzeugt beim Öffnen des Balgs einen anderen Ton als beim Schließen. Das ergibt 142 Töne. Der Weg zum guten Bandoneonspiel kann steinig sein. Frida sagt, schwierig sei vor allem, anderen Kindern zu erklären, welches Instrument sie lernt. „Bei Klavier wäre das leichter.“ Sie sage dann, es sei ein Kasten zum Auseinanderziehen, in der Mitte wie eine Raupe.
Das Instrument, auf dem sie übt, sorgt bei Kennern für leuchtende Augen. Es ist aus dem Jahr 1932 und kommt aus der legendären Firma Alfred Arnold, Carlsfeld. Es wurde extra für Kinder gefertigt. Ein Sponsor hat ermöglicht, dass es die Mozart-Gesellschaft kauft und an Frida ausleiht. Alle anderen Bandoneons sind geliehen. Manche sind nagelneu, andere ebenfalls 100 Jahre alt.
Vor der Grundschule Reichenhain steht eine Plastik von Hanns Diettrich. „Musizierende Kinder“ heißt sie. Es ist einer jener Zufälle, an die man schwer glauben kann, die aber doch einer sind. Vor den stehenden Kindern sitzt ein Junge. Er spielt Bandoneon. Die Schule wurde 1950 eröffnet. Die Plastik stammt aus demselben Jahr. Der Kontakt zwischen Schule und Mozart-Gesellschaft kam aber nicht über die Plastik zustande. Die Schulleiterin hatte sich wegen eines anderen Instrumenten-Projekts mit Kindern an die Mozart-Gesellschaft gewandt. Deren Chef Franz Streuber wiederum suchte eine Schule für den Bandoneonunterricht. Ausgerechnet war es die mit dem Sandstein-Bandoneon vor der Tür.
Jürgen Karthe erklärt den Kindern eine neue Übung. Dabei sollen sie erstmals beidhändig eine Kombination von drei Tönen spielen. Dann spielt der Lehrer einen kurzen Tango vor. Die Kinder können ihn mit dem eben Erlernten begleiten. Das Stück in a-Moll nennt er „Gänsemarschtango“. „Juhu“, ruft Frida, „wir haben Tango gespielt!“ (jpe)